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«Thinking Modern, Building Open»

Erkundungen auf dem Pfad der modernen Architektur | Teil zwei 

von Lennart Franz

Als Leuchtfeuer der Moderne hat die revolutionäre Tätigkeit des Bauhauses nichts geringeres als einen Kulturwandel in der Architektur aber auch im gesellschaftlichen Selbstverständnis angestoßen. Es war dessen bestimmte traditionskritische Stilschule und eine fast manische Suche nach einer originären Identität für das neue Bauen. Baukunst und Design sollten jedem zugänglich sein, gänzlich unabhängig von Geschlecht, sozialen, kulturellen oder politischen Hintergründen. Mithilfe dieses Ethos programmatischer Offenheit, lockerte das Bauhaus den Klammergriff konservativer Ideologien um Architektur und Design und bereitete so den Boden vor, auf dem die Moderne erblühen sollte. Dass das Bauhaus seine innere Struktur und akademische wie politische Balance nicht perfektionieren konnte, ist wohl seiner gewaltsamen Zerschlagung durch den Nationalsozialismus anzulasten. Dessen destruktive Kraft war es auch, welche die Gesellschaft wieder in die Sphären einer konservativen Baukultur zurückzwang und die frühen, euphorischen Entwürfe einer modernen Gedanken- und Gestaltungswelt – welche sie als genauso entartet wie moderne Malerei, Musik und Literatur ansah – von Europas architektonischer Bühne riss.

Die genuin revolutionären, freiheitlichen Ideale hinter der frühen klassischen Moderne, fließendem Raum und neuen Formensprachen, sollten mit dem Ende des Bauhauses 1933 in Berlin wieder einbetoniert werden. Doch konnte dieses Ideal, trotz perfider Kampagnen gegen seine moderne Alternative zum herrischen Weltbild der Nationalsozialisten, nicht vernichtet werden. Durch die forcierte Verstreuung der Bauhäusler in alle Welt, manifestierten sich geistige und praktische Ableger der Schule auf dem ganzen Globus; in der Hauptsache jedoch in den USA. Dort gründete beispielsweise Ludwig Mies van der Rohe das New Bauhaus in Chicago. Institutionen, wie das Black Mountain College in North Carolina, holten viele Bauhäusler als Dozenten an ihren Campus. Während viele vormalige Protagonisten aus Weimar, Dessau und Berlin ihre Ideen der Moderne zu faszinierenden Ausdifferenzierungen weiterentwickelten, führten die Ideale der Moderne auch außerhalb der Bauhaussphäre ein vitales Leben.

Die Moderne neben dem Bauhaus

Ein Pionier jener Strömungen, die sich parallel zum Bauhaus entfalteten, war der österreichische Architekt Richard Joseph Neutra. Auf der anderen Seite des Atlantiks verliehen seine Arbeiten der Moderne mit ihrem markanten kubisch-gläsernem Erscheinungsbild, einen unverwechselbaren Ausdruck. Dieser sollte das formale Verständnis moderner Architektur bis in die Gegenwart nachhaltig prägen. Obwohl Richard Neutra primär als amerikanischer Protagonist der Moderne bekannt ist, ist er gebürtiger Wiener. 1892 zur Welt gekommen, ist es seine besondere Neugier und akademische Umtriebigkeit, die ihm parallel zum Ingenieursstudium zu einer breit gefächerten Expertise in Design und Architektur verhilft. 1912 studiert er zusätzlich Architektur an der privaten Bauschule des radikalen Vordenkers und eloquenten Verfechters moderner Baukultur, Adolf Loos. In dessen privater Institution kommt der junge Neutra mit den Entwürfen des amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright in Kontakt. Für dessen Bauweise entwickelt Neutra schnell eine tiefe Leidenschaft. Mit welch glühender Verehrung er Architekt und Werk anhängt, zeigt der Name seines ersten Sohnes: Frank L.

Architekt Richard Joseph Neutra, der 1950 vom amerikanischen Fotografen Julius Shulmann portraitiert wurde.
(Foto: Julius Shulmann/J. Paul Getty Trust/Getty Research Institute Los Angeles)

Wie so vielen seiner Zeitgenossen war es Neutra jedoch nicht vergönnt, seine Studien zu vertiefen. Im Malstrom einer konfliktgeladenen Weltpolitik wurde auch Richard Neutra in die Schrecken des ersten Weltkriegs gesogen. Nach drei Jahren kehrte er, gezeichnet von Malaria und Tuberkulose, als Oberstleutnant der Artillerie aus dem Krieg zurück. Um die geistigen und körperlichen Wunden besser verwinden zu können, begab er sich zur Kur in die Schweiz. Neutra stemmte sich mit der Hinwendung zu Kreativität und Produktivität gegen die Kriegstraumata: Er schloss endlich sein Studium ab und krönt seine architektonische Expertise mit einer Ausbildung zum Landschaftsgärtner bei der Zürcher Landschaftsarchitekturkoryphäe Gustav Ammann. Später lernte Richard Neutra in Zürich auch seine spätere Ehefrau Dione Niedermann kennen, eine Sängerin und Cellospielerin. Die beiden heirateten im Jahr 1922, während Neutra Mitarbeiter im Berliner Büro des expressionistischen Architekten Erich Mendelsohn in Berlin war.

Im Jahr darauf beschlossen Richard und Dione in die USA auszuwandern. Die unbeschwerte Freizügigkeit mit der in den USA eine moderne Architektur entstand, zog ihn unwiderstehlich an. Für ihn waren Wrights Arbeiten und deren Freigeistigkeit und Leichtigkeit die Essenz der planerischen Unabhängigkeit, mit der man in den Vereinigten Staaten Architektur zu denken und praktizieren schien. Dort, so muss er gespürt haben, konnte er seine Visionen eines von Konservativismus und Tradition befreiten Bauens verwirklichen. Das Ehepaar Neutra emigrierte in die USA. Ihre erste Anlaufstelle war Chicago. Während Neutra dort im Architekturbüro Holabird & Roche arbeitete, kam es zur ersten persönlichen Begegnung mit Frank Lloyd Wright. Anlässlich der Beerdigung des bedeutenden Vertreters des „form follows function“ Gedankens, Louis Henri Sullivan, kamen Neutra und Wright ins Gespräch. Im Verlauf seiner Karriere würde Neutra eine ganz eigene Interpretation des Zusammenhangs von Form und Funktion etablieren.

Das die sogenannte „Chicagoer Schule“, in deren Sphäre er sich Mitte der 1920er Jahre bewegte, die das Pendant schlechthin zur europäischen Moderne ist, wird ihren Teil dazu beigetragen haben. Auch diese Schule vertrat eine rationale Architekturauffassung; in innovativer Allianz mit rasanten technischen und industriellen Neuerungen in Sachen Fertigung und Bauen. Wright lud Neutra und Gattin in sein Atelier bei Spring Green in Wisconsin ein. Infolge dieser fruchtbaren Begegnung mit seinem Idol, verbrachte Neutra ein Jahr als Wrigths Mitarbeiter in dessen Atelierhaus „Talesien“. Die verschiedenen, intensiven Einblicke in die Seele einer neu entstehenden amerikanischen Leitarchitektur bei Holabird & Roche, sowie im Atelier Wrights, fachten Neutras Schöpfungswillen an. 1925 gründete er mit seinem Landsmann Rudolf Schindler ein eigenes Büro in Los Angeles. 

Die für Neutra alles motivierende Frage und das Motiv seiner Suche nach einer Möglichkeit, anders entwerfen, bauen und Architektur denken zu können, summierten sich in einer ersten Veröffentlichung: „Wie baut Amerika?“ Diese Frage würde er durch die zahlreichen Realisierungen visionärer Bauikonen selbst beantworten. Nach der gemeinsamen Arbeit mit Schindler in L.A. gründete er ein weiteres Atelier, in dem er sich hauptsächlich der Umsetzung von Siedlungsentwürfen und öffentlichen Gebäuden widmete. Gotteshäuser, Krankenhäuser und Schulen entstanden in der „Neutra Firm“. Richard Neutra selbst war nahezu manisch produktiv. Die Realisierung seiner Konzepte, die Umsetzung seiner Idealvorstellungen von Architektur in der Praxis genügten ihm nicht. 

Der heutige Zustand der Fassade des Neutraschen Architekturbüros auf dem Glendale Boulevard in Los Angeles. (Foto: Bruce Boehner) Die Studiofront des Architekturbüros von Neutra in Los Angeles, fotografiert von Julius Shulmann 1950.
(Foto: Julius Shulmann/J. Paul Getty Trust/Getty Research Institute Los Angeles)
Auch in der Beschaffenheit der Büroräume seiner Firma, blieb Neutra (zweiter v. R.) seinen offenen und lichten Konzepten treu.
(Foto: Julius Shulmann/J. Paul Getty Trust, Getty Research Institute Los Angeles)

Ein unermüdlicher Modernist

Er gründete 1928 die Akademie für Moderne Kunst in L.A. und reiste nach dem Erlangen der amerikanischen Staatsbürgerschaft 1929 als Delegierter zum Internationalen Kongress für moderne Architektur. Im Folgejahr unternahm er Studienreisen, die ihn auf alle Kontinente und auch ans Bauhaus in Dessau führten. Wie auch die Bauhäusler sah Neutra in der Architektur mehr als eine Disziplin zur Produktion von Lebens-, Arbeits- und Nutzräumen. In der Praxis zeichnete sich seine Arbeit durch konsequent geometrische Klarheit, räumliche Offenheit und fließende Übergänge aus: Von Räumen ineinander, aber auch das Ineinanderfließen von Außen und Innen, Gewachsenem und Gebautem, Natürlichem und Künstlichen. Damit entwickelte Richard Neutra eine Art räumlicher Großzügigkeit, die geschlossene Räume, so groß sie auch sein mochten, nicht bieten konnten.

Diese Grundprinzipien seines Schaffens verdichteten sich 1929. Öffentlichkeitswirksam flossen sie in seinem Design des „Lovell Health House“ in Los Angeles zusammen. Der gradlinige Bau bestand aus kubischen Arrangements in denen sich Wand- und großzügige Fensterflächen abwechseln. Jene Fensterflächen, die bald zur markanten Signatur der Neutra’schen Bauten werden sollten, waren hier noch keine zusammenhängenden, großen Flächen. Noch waren sie aus vielen kleineren Fensterelementen zusammengesetzt. Der Bau muss als geradezu radikal futuristisch gegolten haben, ein Meilenstein architektonischer Stilentwicklungen. Auch in puncto Fertigung machte Neutra große Schritte: Er bediente sich, wie seine europäischen Kollegen neuester Stahlrahmenkonstruktion, und des Betonauftrags mittels Sprühverfahren. Die synergetische Beziehung von Industrie und Architektur war eine innovative Einflussgröße in der modernen Architektur – besonders in der führenden Industrienation. 

Das Lovell Health House im nördlichen Los Angeles brachte Neutra den Durchbruch. Auch heute ist das ikonische Gebäude zu besichtigen. (Foto: City of Los Angeles) Nie gekannte Offenheit und räumliche Großzügigkeit implementierte Neutra in seinen Bauten. Das Lebensgefühl in seinen Entwürfen trat eine regelrechte Stilrevolution los. (Foto: Julius Shulmann/J. Paul Getty Trust/Getty Research Institute Los Angeles) Trotz der Größe des Hauses war Neutra bedacht seinen viel beschworenen Naturzugang nicht zu vernachlässigen. Im Lovell House lässt es sich so vom Pool aus über das Grün des Griffith Park blicken.
(Foto: Julius Shulmann/J. Paul Getty Trust, Getty Research Institute Los Angeles)

Über Nacht war Richard Neutras Name und sein präziser und doch lockerer Stil in aller Munde und machte den Architekten über die Grenzen der USA hinweg berühmt. Der charakteristische, geometrische Purismus, die Flächenarrangements aus Wand- und Fensterelementen verdichteten sich neben stilverwandten Designs seiner Zeitgenossen schnell zum Label „International Style“. Dessen Vertreter avancierten schnell zum Architektur-Pop. Innerhalb der USA erlangte seine reduzierte Baumanier zügig den Status eines nationalen Stils und wurde zur gebauten Verkörperung des unbeschwerten Lebensgefühls Amerikas erhoben. Sein unverwechselbarer architektonischer Ausdruck wurde in Medien und Volksmund zum „kalifornischen“ oder dem „L.A.-Stil“.

Auch in Neutras Entwurf des Tremaine House wird seine Überzeugung und Naturaffinität deutlich.
(Foto: Julius Shulmann/J. Paul Getty Trust/Getty Research Institute Los Angeles)
Um seine Gebäude herum be- oder entsteht eine reiche Flora, die er durch seine typischen, großzügigen Glasfronten ins Baukonzept integriert. (Foto: Julius Shulmann/J. Paul Getty Trust/Getty Research Institute Los Angeles) Richard Neutras Kaufmann House ist wohl eines der bekanntesten Exempel modernistischer Offenheit. Hier verwob Neutra das räumliche und Lebensgefühl eng mit dem Umgebungskontext des Hauses.
(Foto: Julius Shulmann/J. Paul Getty Trust/Getty Research Institute Los Angeles)
Das Interieur seines Baus in Palm Springs zeigt außerdem, wie seine Entwürfe einen neuen Luxusbegriff zu prägen begannen, zu dem eine ästhetische Askese nicht in Widerspruch stand. (Foto: Julius Shulmann/J. Paul Getty Trust/Getty Research Institute Los Angeles)

In der Besetzung dieser Stilbegriffe, schwang die kalifornische Sonne und die Leichtigkeit zwischen urbaner Lebensart und Surferkultur mit. Der assoziative Brückenschlag gelang dank Neutras Planungsgrundsätzen ziemlich gut: In den offenen Grundrissen, die, so möglich und vom Bauherren gewünscht, große Fensterflächen Wänden vorzogen, ließ es sich im ewigen Sonnenschein unter dem Himmel der Westküste paradiesisch Leben. Bisherige, zusammengestückelte Fensterflächen hatte Neutra durch einzelne Großfenster ersetzt.

Auch das Miller House integriert sich unaufgeregt in die Landschaft von Palm Springs. (Foto: Ilpo’S Sojourn)

Architektonische Furore im Dienst der Menschen

Seine Erfolg hatte Signalwirkung: Ab 1929 folgte Auftrag auf Auftrag und Neutra realisierte seine baulichen Idealvorstellungen in vielen Projekten; meist im sonnigen Westen der USA. Hier spielten Klima, Licht und die wirtschaftliche Stellung des Klientel mit Sinn für moderne Architektur günstig zusammen. Trotz wachsender Bekanntheit, verlor Neutra sich nicht in eitlen Selbstinszenierungen als Meister neuer Architekturwahrheiten, noch drängte er seine Ansätze und Stilmittel Klienten auf. Trotz der Symbolkraft seines Designs, stand dieses unverändert im Dienste der Auftraggeber – privater wie öffentlicher. Mit geradezu systematisiertem Einfühlungsvermögen ging Neutra bei der Konzeption seiner Entwürfe vor: Um effektive, tiefe Einblicke in die Konstellation von Bedürfnissen, Vorstellungen und Wünschen zu erlangen, mussten seine Klienten detaillierte Fragebögen ausfüllen. Mithilfe dieser Bezugspunkte stimmte Neutra seine Entwürfe feinfühlig auf die Bewohner seiner Bauten ab. Anstatt die Menschen vor gebaute Tatsachen zu stellen, folgten die Formen seiner Entwürfe einzig der Funktion, individuelle Lebenswirklichkeiten zu Verbessern. 

Die Interieurentwürfe Neutras waren zwischen Funktion, Offenheit und – mindestens visueller - Naturnähe immer fein ausbalanciert.
(Foto: Daniel Kim)
Die Reduktion von verschiedenen Baulementen wie Treppen & Co. auf ihre essentiellen statischen Bestandteile schufen möglichst unverstellte Blicke auf das von Neutra hochgeschätzte Grün im Umfeld seiner Bauten; und kreierten gleichzeitig formalästheische Innovationen, die ins moderne Design einflossen. (Foto: Daniel Kim)

So erweiterte er sein architektonisches Repertoire um eine, in einer Disziplin mit Vorliebe für Repräsentationswert, bisher wenig beachtete Komponente: Empathie. Während seiner Schaffensphase, begonnen mit seinem Durchbruch 1929 bis in die 1970’er Jahre hinein, optimierte Richard Joseph Neutra seinen Architekturethos formal und funktional. Dessen Fundament bezeichnete Neutra als „biorealistischen Architektur“. Seines Erachtens konnten Menschen nur durch größtmögliche Naturnähe zu vollendetem Wohlbefinden gelangen: „Man stelle den Menschen in eine Verbindung mit der Natur; dort hat er sich entwickelt und dort fühlt er sich besonders zu Hause“, formulierte Neutra.

Auch das Maslon House in Mirage, Kalifornien, ist ein moderner Pavillonbau im Grünen.
(Foto: Julius Shulmann/J. Paul Getty Trust/Getty Research Institute Los Angeles)

Um dieser Philosophie gerecht zu werden, setzten seine Entwürfe auf zwei Aspekte: Zuerst auf offene Grundrisse, dem „Open Plan“. Diese Art, räumliche Zusammenhänge zu schaffen, konnte gedankenlose Reihungen verschiedener Funktionsräume entzerren. Das gelockerte Raumgefüge und -gefühl sollte den Häusern Variabilität verleihen: Privater Wohnkomfort und Cocktailempfänge mussten gleichermaßen einfach machbar sein. Jeder Lebensentwurf und jeder Anlass sollten so bedient werden können. Nach der Befreiung von der Enge überalterter Baukonventionen bedurfte es nun noch der Wiederherstellung der Beziehung mit der Natur. Dieser Ambition entwuchs auch Neutras markantes Stilmittel: Zahlreiche, weite Fensterflächen, welche die räumlichen Kompositionen seiner Architektur einmalig entgrenzten. Mit seiner programmatischen Offenheit öffnete er ganze Gebäudeseiten durch Glasflächen und schuf fast durchlässige Bauten. So kreierte er nahtlos fließende Übergänge vom Inneren zum Äußeren. Neutra hatte die konventionelle Schranke, die Bewohner und Umwelt voneinander trennte, eingerissen und reduzierte sie auf das praktische Minimum einer Glasscheibe.

So sollte seine Architektur zum Zweiten – mittels unverstellter Grundrisse und großer Fenster – für eine visuelle und atmosphärische Korrespondenz von Baukörper und der Umgebung sorgen. Die Integration natürlicher Strukturen war zeitlebens eine Konstante seines architektonischen Schaffens. Entweder indirekt, in dem er Panoramen und Ausblicke derart anlegte, dass der landschaftliche Kontext eines Gebäudes signifikanter Bestandteil seiner Raumkonzeption wurde. Oder unmittelbar, in dem er um Bäume, Felspartien oder andere natürliche Formationen, herumplante. In beiden Fällen sorgten allein die ausladenden Fensterflächen dafür, das die Fusion von Wohn- und Naturwirklichkeit gelang. Neutras geschickter Einsatz großformatiger Fenster machte seine Kreationen zu Kompositionen fließender Räume.

Dabei sollte die unverkennbare Steigerung der Lebensqualität durch offenes Bauen nicht nur Individuen, sondern auch der Allgemeinheit zugute kommen. Den Schlüssel hierzu sah Neutra in der Teilindustrialisierung des Bauens. Die serielle Vorfertigung bestimmter Teile, die Routinierung einer industriell geprägten Planungsweise und niederkomplexe, geometrische Grundrisse, sollte die Häuser günstiger und für viele Menschen erschwinglich machen. Mit seinem Wirken hat er entscheidend zu einer nachhaltigen, stilistischen Reformation beigetragen und gezeigt, dass Architektur sich offensichtlich nicht allein über vier Wände und ein Dach definieren lässt. So ist das, was Neutras Stil auf ästhetischer wie konzeptioneller Ebene einzigartig macht, nicht nur eine symbolische Erneuerung architektonischer Ansätze, sondern eine konkrete, philanthropische Agenda. 

Von der Moderne in die Zukunft

Das eine solche kontinuierlicher Innovationen Bedarf, ist dabei nicht immer klar. Die gewohnte Präsenz glasverkleideter Gebäude, täuscht darüber hinweg, dass sich hinter ihnen ein langer Innovationswegs verbirgt. Nachdem die großen Fensterflächen Mitte des 20. Jahrhunderts eigentlich nur in sonnigen Regionen zur Anwendung kamen, machen es die kontinuierlichen Innovationen von Protagonisten wie Sky-Frame möglich, derartige Lösungen auch in den anspruchsvollsten Baukontexten anzuwenden. Die technischen Herausforderungen sind dabei größtenteils bewältigt: Stabilität, Wärmedämmung und akustische Aspekte stellen keine problematischen Größen mehr da. Heute geht es vor allem um Details und funktionalen Tiefgang: Automatisierung, Vernetzung, variable Öffnungsrichtungen, Tönungen, integrierter Insektenschutz und vieles mehr. All dies macht den Archetypus Fenster zu einem Instrument, mithilfe dessen Planer Umgebungssensibel und gemäß aller modernen Ideale die Limitierungen generischer Architektur hinter sich lassen können. Doch um den Erhalt und den Ausbau dieses Zustands muss beständig gerungen werden. Nur Unermüdlichkeit und unbedingter Innovationswillen kann für den Erhalt nachhaltiger und zukunftsfähiger Architektur garantieren und ihre Potentiale ausbauen. 

In Neutras Fall waren es die Potentiale revolutionären Denkens und technisch-industrieller Neuerungen. Doch während die bekanntesten Exempel von Neutras Bauethos sich hauptsächlich in Form seiner „Houses“ manifestierten, dachten einige seiner Zeitgenossen die Moderne bereits in die Vertikale weiter. Beim Boom der Hochhaustopographien, welche heute wie selbstverständlich zu unseren Cities gehören, sind multifunktionale Fensterflächen nicht wegzudenken. Und auch bei der Entwicklungen verglaster Wolkenkratzer, waren die Modernisten federführend. Eine prägende Figur mit charakteristischem Faible für Glas und offene Grundrisse ist Ludwig Mies van der Rohe. Der letzte Bauhausdirektor interessierte sich für ähnliche Ideale wie Neutra, doch übertrug er diese auf ganz neue Dimensionen. Er skalierte die moderne Architektur zu Hochhäusern, praktizierte sie im Design repräsentativer Institutionen und öffentlichen Gebäude. Mit den abschließenden Schritten auf dem Pfad der Moderne begleiten wir die Ludwig Mies van der Rohe und die nächste Entwicklungsphase des Fensters. Im Œuvre des berühmten deutsch-amerikanischen Architekten steigt das Fenster – dessen Vorfahr ein Loch in der Wand war – zur Totalität der Glasfassade auf. Und so bereitete van der Rohe den letzten Schritt vor, in dem das Fenster seine finale Form erlangt – und sich auflöst.